Photographische Spuren des Politischen

Dieser Photograph wirbelt die gängigen Darstellungsmodi politischer Bildberichterstattung durcheinander und traut sich etwas zu: Hochrangige Politiker, Repräsentanten von Weltmächten radieren sich durch ihre Bewegungen vor Armin Häberles Kamera selbst aus. Seine Langzeitaufnahmen, unter dem Titel „Staatsbesuche“ zusammengefasst, entstanden am Anfang des neuen Jahrhunderts meist in Berlin. Und kürzlich besuchte Häberle auch den G8-Gipfel von Heiligendamm mit seiner Großbildkamera.

Die abgebildete Zeitlichkeit entspricht bei ihm der Entstehungszeit des Bildes, die normalerweise in der journalistischen Photographie nicht-visualisiert und insofern ohne Bedeutung bleibt. Denn es ist für die Bildwirkung meist einerlei, ob eine Situation mit einer 1/50 oder einer 1/500 Sekunde auf das Negativ oder die Speicherkarte eingebrannt wurde. Bewegungsunschärfe hingegen wie bei Häberle, die durch ein bewegtes Objekt oder eine minutenlange Objektivöffnung entsteht, suggeriert Zeit - erlebte Zeit - Realzeit.

In den „Staatsbesuchen“ verbleibt die Architektur im Bildgrund, etwa Regierungsgebäude wie das Kanzleramt oder der so genannte Bendler-Block, wo heute das Verteidigungsministerium in Berlin untergebracht ist. Häberle zeigt auch die Gästehäuser der Bundesregierung, wo vor der Tür offizielle Begegnungen stattfinden, stets vor der einberufenen Presse, die die nötigen Bilder liefert, als Beweis dafür, dass ein Staatsgast auch tatsächlich vor Ort war. Noch immer wird solchen journalistischen Photographien, die von Häberles Kollegen gleichzeitig vor Ort mit „normaler“ Belichtungszeit gemacht werden, ein dokumentarischer, sprich: authentischer Gehalt zugesprochen. Häberle dehnt dieses Verständnis, diese Verabredung; bei ihm wird die Situation lediglich architektonisch verortet, wenn die Menschen sich auch vor der steinernen Hintergrundfolie durch die bewusst lange Belichtungszeit häufig in Schlieren auflösen. Er zeigt etwas und verweigert doch den konkreten Blick auf die Situation. Wie ein Taschenspielertrick funktioniert dies auf der formalen Ebene. In seinen langen Belichtungen stecken gewissermaßen mehrere Aufnahmen, die sich überlagern und verdichten. Andere Photographen arbeiten formal ähnlich, etwa wenn Architektur, die sich im Konstruktionsprozess befindet, so lange belichtet wird, dass das gesamte Entstehen eines Bauwerks, also gelegentlich über die Dauer mehrerer Jahre, auf einem Bild dokumentiert ist. Auch bei Häberle bestimmt die Situation die Länge der Belichtungszeit, in Umkehrung der traditionellen Idee, eine ausgewählte Szene abbildungsgenau im Sekundenbruchteil wiederzugeben.

Das Verfahren erinnert uns an die Pionierzeit des Mediums; denn damals hatten die Photographen mit technischen Unzulänglichkeiten wie teilweise stundenlangen Belichtungszeiten zu kämpfen. Die Menschen in den frühen Photographien konnten kaum so lange stillsitzen oder –stehen, wie das Kameraobjektiv geöffnet bleiben musste, um eine ausreichende Belichtung zu realisieren. Häberle benutzt dieses frühe technische Problem bewusst für seine Photokunst heute. Die Menschen sind in seinem Bildwerk nicht mehr zu identifizieren, bis auf wenige Ausnahmen, etwa in den walk sequences.

Politische Ereignisse wie gemeinsame öffentliche Auftritte in wechselnden Konstellationen werden gleichsam in ihre Bestandteile zerlegt. Die Bilder funktionieren unabhängig vom hochpolitischen Geschehen, doch erst mit Kenntnis dieses Gehalts entsteht ihre Brisanz. Armin Häberle hinterfragt also nicht nur die Darstellungskonventionen politischer Treffen, er stellt auch die Notwendigkeit des kurzen Öffentlichkeitsauftritts von Politikern – vor den eigentlichen Sitzungen – generell infrage. Doch die Pressekonferenzen oder gemeinsamen Erklärungen nach den Sitzungen, wo auch die Gesprächsergebnisse und insofern politische Inhalte transportiert werden, sehen wir in diesen Bildserien gar nicht erst. Häberle ist strukturell interessiert, nicht an der Tagespolitik. Das Besondere in seinem Werk ist die Idee der Unschärfe sowie die Wahl des Betrachterstandortes; meist überblicken wir die gesamte Situation – inklusive der PR-Berichterstatter, die mal weniger, mal mehr an den Bildrändern auftauchen. So kommentieren die Kollegen das politische Geschehen in Häberles Aufnahmen. Gleichzeitig sind diese Bilder authentisch; sie zeigen die (politische) Welt nicht nur als Bühne, sondern übersetzen Weltpolitik in Alltagssituationen. Wenn etwa Wladimir Putin auf dem Rostocker Flughafen erwartet wird, liegt ein roter Teppich verloren auf der Landebahn, und es stehen Soldaten zweireihig Spalier. In einigem Abstand befinden sich, des besseren Überblicks wegen, einige Dutzend Journalisten auf provisorischen Tribünen, um über die Ankunft des russischen Präsidenten zu berichten. Armin Häberle wählt am gleichen Aufnahmeort bewusst eine zurückliegende Position für sich und seine Kamera, um – ironischerweise wie ein nachrichtendienstlicher Beobachter – den Überblick zu behalten und das große Spiel um die politisch-öffentlichen Termine verfolgen und hinterfragen zu können.

Wenn zwei Politiker sich vor laufenden Kameras die Hände schütteln, gemeinsam in die Linsen lächeln und so eine innige Verbindung inszenieren, können geschulte politische Beobachter aus diesem Spektakel einiges herauslesen. Absurd erscheinen uns die Treffen hochrangiger Politiker im privaten Kontext, die von wenigen ausgewählten Journalisten dokumentiert und kommentiert werden (dürfen). Häufig geraten diese photographisch und inhaltlich völlig irrelevanten Aufnahmen dennoch auf die Titel der internationalen Tageszeitungen – und gelegentlich sogar in die Geschichtsbücher, wenn auf diese Weise etwa Friedensverträge symbolisch besiegelt werden.

Auf den small-talk auf höchster politischer Ebene sind wir neugierig, und doch wollen wir ihn eigentlich gar nicht hören, wie denjenigen seinerzeit zwischen George W. Bush und Tony Blair, als versehentlich ein Mikrofon ihr Gespräch am Rande eines Abendessens mitschnitt. Häberle liefert uns mit seinen „Staatsbesuchen“ eine kongeniale, visuelle Entsprechung. Hierarchien und die „Wichtigkeit“ der einzelnen Protagonisten auf der weltpolitischen Bühne werden von ihm im reinen Wortsinn verwischt.

In seinen walk sequences spazieren einige Politiker des G8-Gipfels von Heiligendamm in Gruppen, eingebettet in ein Tross von Sicherheitskräften und Dolmetschern, von einem Gebäude zu einem anderen, und die Photographen, die hinter einer dünnen, niedrig hängenden Kordel ihren Platz einnehmen müssen (und dies auch brav tun), dokumentieren dies mit Dutzenden von Bildern. Die meisten dieser Aufnahmen entstehen in der Vorahnung oder Hoffnung, dass möglicherweise etwas Bemerkenswertes während des Spazierganges geschehen könnte – und werden anschließend doch nicht verwertet. Pressephotographie bleibt ein schwieriges Geschäft, stets auf der Suche nach ungewöhnlichen Begebenheiten.

Häberle wählt einen anderen Weg als seine Kollegen. Es existiert bekanntlich eine allgemeine Konvention, wie Politiker und Politikerinnen gekleidet sind. Das gilt allerdings nicht für alle Bereiche auf der Welt, im arabischen Raum oder in Afrika beherrschen weniger dunkelgraue Anzüge, als vielmehr einteilige weiße Gewänder die Szenerie. In der fünfteiligen Bildserie der so genannten walk sequence Afrika aus dem Jahr 2007 beobachtet er einen gemeinsamen Gang mehrerer afrikanischer Staatschefs zur G8-Sitzung, die in weiße Gewänder gehüllt waren und beim Vorbeischreiten mittels seiner Kamera weiße Schieren entstehen ließen. Bei anderen Arbeitssitzungen westlicher Regierungschefs am Rande des Gipfels entstanden dann dunkelgraue Schlieren in Häberles Sequenzen. Nur Angela Merkel, die trotz der Bewegungsunschärfe in Häberles Aufnahme an ihrem Gang zu erkennen bleibt, trug 2007 ein helles Kostüm und zeichnete sich – als Gastgeberein des Gipfels – als etwas Besonderes aus. Während in den „Staatsbesuchen“ das Geschehen in ein einziges Bild verdichtet ist, splittete er den Spaziergang der Politiker in eine mehrteilige, filmisch wirkende Sequenz auf.

Armin Häberles Aufnahmen thematisieren Zeit, indem der Künstler stets mehr als nur einen einzigen Augenblick mit seiner Kamera einfängt. Interessant sind hier neben verwischten Gestalten auch die Seitenblicke auf die Computerbildschirme in einem Pressezentrum, diese sich ständig verändernde Matrix unserer Informationsgesellschaft. Die visuellen Informationen im Bild gerinnen zu bloßen Reizen einer schnelllebigen Welt. Und dass gerade Armin Häberle eine solche Aufnahme macht, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn er selbst verzichtet im eigenen Werk bekanntlich auf jeglichen Nachrichtenwert zugunsten verschiedener Abstraktionsgrade und Zeit-Darstellungsebenen.


Dr. Matthias Harder

Kurator
Helmut-Newton-Stiftung Berlin

(veröffentlicht in: Juliet - Art Magazine No. 141, Trieste 2008)